So weit so fort

Dana kraulte seit einer halben Stunde durch das Wasser der Schwimmhalle. Mit jedem Zug fühlte sie sich leichter und deshalb dachte sich nicht daran aufzuhören. Sie fühlte, wie die Sorgen von ihr abfielen, Schicht für Schicht, als sei sie eine Schlange, die sich häutet. Auf Wolken leben hatte sie einmal diesen Zustand genannt, es machte sie einfach glücklich. So oft es ging, gönnte sie sich diese Auszeit und mit der Zeit hatte sie beachtliche Oberarme entwickelt und auch ihr Kreuz war in die Breite gegangen, was einigen Leuten in ihrer Umgebung nicht sehr gefiel. Aber sie behielt es für sich, woher die körperliche Veränderung rührte. Ging sie in die Schwimmhalle, log sie, dass sie zum Einkaufen müsse und bat um Geld. Ihre Badesachen hielt sie in einem dornigen Gebüsch in der Nähe versteckt, dort hängte sie Handtuch und Badeanzug nach dem Schwimmen säuberlich auf und betete, dass niemand es finden möge.

Die Bademeister grüßten sie mit Respekt und das wollte etwas heißen, hatten sie doch für die meisten Badegäste nur Verachtung übrig. „Planscher“ oder „Pisspötte“ nannten sie diese in der Regel, weil sie alles dreckig machten und selten vernünftig schwimmen konnten. Vernünftig, das hieß, Bahnen ziehen, Klappe halten. Dana tat beides und deshalb war sie gern gesehen. Meditativ tauchte ihr Kopf auf und ab, die von den Dornen zerkratzen Arme holten weit aus, um den Körper nach vorn zu ziehen. Sie rempelte niemanden an und niemand rempelte sie an, elegant umschwamm sie alle Hindernisse und dabeiwirkte sie so sanft und ruhig, dass man sie fast hätte übersehen können. Mit der blauen Badekappe und dem schnittigen himmelblauen Sportbadeanzug war sie eins mit dem Wasser.

Tatsächlich bemerkte es daher eine ganze Weile niemand, dass sie im Wasser trieb, leblos und in der letzten Bewegung verharrt, den einen Arm zum Kraulen nach vorn gestreckt, den anderen dicht am Körper. Einer der Bademeister zog sie heraus und leitete sofort alle Rettungsmaßnahmen ein. Doch es war zu spät. Dana war an ihrem Glück ertrunken. In der Umkleidekabine fand man ihren Rucksack und Kleidung, doch es gab keinen Ausweis oder sonst irgendeinen Hinweis auf ihre Identität. Noch tagelang versuchten die Behörden herauszubekommen, wer sie war. Der entscheidende Tipp kam schließlich von einem syrischen Flüchtling, der sich eines Tages schüchtern bei den Bademeistern erkundigte, ob sie wüssten, weshalb die junge Frau nicht mehr kommen würde, mit der er sich oft nach dem Schwimmen unterhalten hatte. Wie sich herausstellte, war sie eine Perserin ohne Aufenthaltstitel gewesen. Er wusste nur ihren Namen; wo sie gewohnt hatte und wer ihre Eltern waren, vermochte er nicht zu sagen. Und so wurde die Leiche anonym auf einem städtischen Friedhof begraben. Dorthin kommt häufig der junge Syrer und weint.

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