Ein und alles

Mittags hielt es Manu zuhause nicht mehr aus. Sie suchte ein paar Sachen zusammen, lud ihre 15 Meerschweinchen in den Kombi und fuhr los. Endlich raus aus der Stadt und dem heißen Smog, der wie eine Glocke über den Häusern hing. Sie hatte sich einen Wald ausgesucht, gar nicht weit weg, wo sie in Ruhe campen konnten. Sie war schon mehrmals dort gewesen und hatte für die Tiere sogar ein Gehege eingezäunt. Nachts mussten die Meerschweinchen natürlich wieder in ihre Käfige wegen der Füchse und Marder. Aber tagsüber hatten sie sich an der frischen Luft erholt.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Manu auf die Stadtautobahn auffuhr. Der Fahrtwind, der durch die offenen Fenster wehte, fühlte sich an, als habe jemand einen Föhn angeschaltet und der Schweiß klebte ihr T-Shirt am Rücken fest. Sie seufzte und schaltete das Radio an, um Verkehrsnachrichten zu hören. Kein Stau weit und breit, das beruhigte sie, denn Autofahren war ihr immer ein bisschen unheimlich. Das lag auch daran, dass Ihr Kopf kaum über das Lenkrad hinausragte. Sie war zu klein für diese Welt, das hatten schon ihre Eltern immer gesagt und zuhause musste sie, bis sie elf war, zum Abwaschen auf einen Hocker steigen. Zwerg war sie in der Schule genannt worden, sogar von den Lehrern. Das hatte sie eine Weile belastet, aber irgendwann hatte sie nicht mehr hingehört und sich mit Tieren angefreundet. Mit solchen, die noch kleiner waren als sie, Meerschweinchen, Hamster, Mäuse. Außerdem sammelte sie Modelltiere, lebensechte Miniaturen von Pferden, Elefanten oder Affen.
Manu war früh von zuhause ausgezogen, sobald es finanziell möglich gewesen war, und das war vor allem ihrer Großtante zu verdanken, die ihr ein kleines Vermögen vererbt hatte. Die Tante war ähnlich klein wie sie gewesen und vielleicht hatte sie sich damit für ihr Erbgut entschuldigen wollen. Manu jedenfalls war hocherfreut gewesen, zumal sie die Großtante kaum gekannt hatte. In die erste eigene Wohnung hatte sie ihre Meerschweinchen mitgenommen, und im Laufe der Jahre waren immer mehr Tiere dazu gekommen, weil sie einen Bock von ihrer Nachbarin übernommen hatte, der sich als Frauenheld herausstellte. Manu hatte eine Ausbildung zur Tierarzthelferin begonnen, doch die großen Hunde hatten ihr Angst gemacht, und so war sie bald wieder abgesprungen. Aus Langeweile hatte sie sich eine Nähmaschine besorgt, um Zubehör für ihre Modelltiersammlung zu nähen, die sich in den Regalen neben den Meerschweinchenkäfigen türmte. Zaumzeug und Decken für die Pferde etwa, oder Halsbänder für Hunde. Irgendwann waren die Sachen so perfekt, dass sie überlegt hatte, sie zu verkaufen. Ein Cousin hatte ihr von seinen pferdeverrückten Kindern erzählt, die jedes Wochenende auf den Reiterhöfen der Umgebung Turniere abhielten. Eines Sommers war sie mit einem Tapeziertisch und den genähten Modelltier-Accessoires zu einem dieser Höfe gefahren und hatte an einem Tag mehr verdient, als eine Arzthelferin in einer Woche. Seitdem war sie jedes Wochenende unterwegs und hatte sich unter den pferdenärrischen Mädchen einen Namen gemacht.
Manu setzte ihre Sonnenbrille auf. Die Meerschweinchen im Kofferraum quiekten und sie sprach beruhigend auf sie ein. Sie hatte einen ganz speziellen Singsang, eine Art Meerschweinchensprache, die die Tiere wohl verstanden, jedenfalls reagierten sie meistens darauf und wurden lammfromm. Doch im Auto half das Reden nicht, die Tiere waren einfach zu aufgeregt und Manu ärgerte sich, dass sie kein Beruhigungsmittel ins Trinkwasser getan hatte. Einmal quiekte ein Tier so herzzereißend, dass Manu sich umdrehte. Als sie wieder auf die Fahrbahn schaute, konnte sie im letzten Moment noch einem Laster ausweichen, dem sie zu nahe gekommen war. Sie schluckte und spürte, wie ihr Herz hämmerte. Plötzlich hasste sie ihren Entschluss. Wäre sie nur zuhause geblieben. Doch sie tat es ja schließlich für die Tiere. Die mussten ja auch mal raus aus der Enge und der stickigen Luft.
Manu sah erleichtert, dass der Berliner Ring in Sicht kam. Nun war es nicht mehr weit. Sie warf einen Blick auf die Landkarte auf dem Beifahrersitz. Einen Navi hatte das alte Auto nicht und sie hätte auch gar nichts damit anzufangen gewusst. Sie hatte ja nicht mal einen Computer, geschweige ein Handy. Das alles war ihr unheimlich, zu viele Tasten und Zahlen. Die vielen Abfahrten am Autobahnkreuz verwirrten sie und sie hatte Mühe sich den richtigen Weg zu bahnen. Aber schließlich hatte sie es geschafft und die Wälder im Norden kamen in Sicht. Sie fuhr von der Autobahn ab Richtung Wandlitz. Kurz vor der nächsten Ortschaft bog sie in einen holprigen Feldweg ein. Die Käfige rumpelten hinten im Kofferraum und die Meerschweinchen quiekten erbärmlich. Manu fluchte und versuchte um die schlimmsten Schlaglöcher herumzukurven. In so schlechter Verfassung hatte sie den Weg nicht in Erinnerung, und sie war unsicher, ob es der richtige war. Sie stoppte und schaute auf die Landkarte. Sie brauchte eine Weile, ehe sie sich zurechtgefunden hatte, die Meerschweinchen machten einen Höllenlärm. Manu wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn und runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war sie zu früh abgebogen, sie fluchte und fuhr weiter, um eine Stelle zu suchen wo sie wenden könnte. Doch der schmale Weg führte nur immer weiter in den Wald hinein.
Nach einer gefühlten Ewigkeit passierten sie eine Lichtung, Manu versuchte zu wenden, doch sobald sie den Weg verlassen hatte, steckte sie mit beiden Rädern im Morast eines Sumpfs fest, der sich unter grünem Gras verborgen gehalten hatte. Panisch drückte Manu aufs Gas, aber die Räder fraßen sich nur noch tiefer in den Dreck.
„Mist“, schimpfte sie und stieg aus. Sie lief um den Wagen herum, und ihre Sandalen quatschten im Schmodder. Manu öffnete die Kofferraumtür und gab den Meerschweinchen frisches Wasser, das sie in Plastikflaschen abgefüllt hatte. Dann trank sie selbst mehrere Schlucke und goss sich einen Schwall über ihren Kopf. Gleich fühlte sie sich besser. Sie überlegte was zu tun sei und entschied, erst mal abzuwarten. Hier konnte sie die Meerschweinchen unmöglich rauslassen. Die Tiere hatte sich zum Glück etwas beruhigt und nagten an den Möhren, die sie ihnen vor der Fahrt in die Käfige gelegt hatte. Zwei paarten sich, was ebenfalls ein gutes Zeichen war. Manu scheuchte die Tiere auseinander. Sie hatte gedacht, dass sie Männchen und Weibchen voneinander getrennt untergebracht hatte, aber es war ihr wohl ein Fehler unterlaufen. Noch mehr ließen sich schwer in ihrer Wohnung unterbringen und daher versuchte sie mit allen Mitteln zu verhindern, dass neue dazu kamen. Sie öffnete den Käfig und versuchte eines der beiden herauszuheben. Das Tier wehrte sich heftig und quiekte, und Manu konnte es kaum halten. „Ruhig, Ruppert, ruhig,“ versuchte sie es zu beruhigen. Sie hatte allen Meerschweinchen die Namen von Mitschülern aus ihrer Abschlussklasse gegeben. Doch vielleicht war er eine sie? Manu setzte Ruppert in einen Eimer mit Einstreu und streichelte sein Fell, dann nahm sie das Tier wieder hoch und versuchte herauszukommen, ob es ein Weibchen oder Männchen war.
Während Ruppert in ihren Händen zappelte, waren plötzlich Schüsse zu hören. Vor Schreck ließ sie ihn fallen und er hoppelte wie rasend aus dem Auto und wieselte ins Unterholz des Waldes. „Scheiße,“ rief Manu und jagte hinterher. Doch im Laufen überkam sie Panik, vielleicht schoss jemand auf sie? Sofort kehrte sie um, warf die Klappe des Kofferraums zu und setzte sich ins Auto. Ruppert würde vielleicht zurückkehren, wenn er Hunger bekam, dachte sie und zitterte. Wieder waren Schüsse zu hören. Jäger, natürlich, schoss es ihr durch den Kopf. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Vielleicht konnten ihr helfen. Sie studierte zum x-ten Mal die Landkarte. Doch je länger sie darauf starrte, desto verwirrter war sie. Manu fischte eine Banane aus ihrem Proviantkorb und schälte sie. Sie musste irgendwie auf sich aufmerksam machen, dachte sie während sie hastig aß, und plötzlich fiel ihr die Lösung ein. Sie drehte den Zündschlüssel um und hupte mehrmals. Und wenn es doch keine Jäger waren? Gingen die nicht erst in der Dämmerung auf die Pirsch? Manu hielt inne, doch dann machte sie weiter. Was hatte sie für eine andere Wahl?
Tatsächlich kam kurze Zeit später ein Geländewagen des Weges. Es waren aber keine Jäger, sondern Soldaten.
„Was machen Sie hier?“, fragte der Fahrer streng, sein Ellbogen hing aus dem geöffneten Fenster. „Das ist Manövergelände, haben Sie die Schilder nicht gesehen?“
„Nein“, sagte Manu und schüttelte den Kopf. „Können Sie mich rausziehen?“
Der Mann stieg aus und inspizierte ihr Auto.
„Was wollen Sie mit so vielen Meerschweinchen im Wald?“ fragte er misstrauisch.
„Frische Luft schnappen“, antwortete Manu, darauf wartend, dass er sie verrückt erklären würde.
„Ich hab auch welche“, sagte er stattdessen und sein Ton wurde eine Spur freundlicher.
„He, Kleiner, komm mal“, rief er und aus dem Geländewagen stieg ein vielleicht 18-jähriges Bürschchen, dem die Uniform eine Nummer zu groß war. Der Fahrer zeigte ihm die Meerschweinchen. Manu war auch ausgestiegen und öffnete den Kofferraum. Die Schweinchen piepsten aufgeregt und sie sprach beruhigend aus die ein.
„Sie mögen es im Wald zu sein“, sagte sie und sie erklärte den Soldaten, was sie vorgehabt hatte.
„Ist ja eigentlich verboten, im Wald zu campieren,“ sagte der Ältere und schaute sich suchend um. „Aber unter uns, wenn sie hinter Wandlitz sind, fragt keine Sau danach“. Der Jüngere kicherte. Der Ältere sah ihn streng an und er verstummte sofort.
„Ganz ungefährlich ist es natürlich nicht so allein im Wald,“ fuhr der Ältere fort und räusperte sich. Manu zuckte mit den Achseln und schwieg. Angst hatte sie in der Stadt mehr als im Wald.
Der Fahrer holte ein Abschleppseil aus dem Laderaum des Jeeps und befestigte es an beiden Wagen. Sie stieg ins Auto, und es dauerte keine fünf Minuten, bis sie wieder auf dem Feldweg stand, diesmal aber in der umgekehrten Richtung, so wie sie es gewollt hatte.
„Jetzt aber flott Abmarsch“, sagte der Soldat, als er das Abschleppseil von ihrem Auto entfernt hatte.
„Wenn sie hier noch ein schwarz-weiß geflecktes Schweinchen finden, das ist mir vorhin ausgebüxt,“ sagte Manu und gab ihm einen Zettel mit ihrer Telefonnummer. Ihre Hände zitterten und sie fühlte einen Kloß im Hals.
Der Ältere tippte sich an die Schläfe und nickte.
„Danke“, rief Manu und gab Gas. Im Rückspiegel sah sie, wie der junge Soldat das Unterholz durchstöberte.
Als sie wieder an der Landstraße angekommen war, sah sie mehrere Schilder, die auf das Manöver hinwiesen. Wahrscheinlich hatten die Meerschweinchen sie zu sehr abgelenkt, dachte sie. Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde, der Kloß im Hals schnitt ihr fast die Luft ab. Sie wühlte in ihrem Rucksack nach den Rescue-Tropfen, aber sie fand sie nicht.
Plötzlich war ein Hupen zu hören. Es waren die beiden Soldaten, im Rückspiegel sah sie wie der Jüngere auf dem Beifahrersitz Ruppert hoch in die Luft hielt.
Manu stieg aus und riss die Tür des Geländewagens auf. Der Junge reichte ihr Ruppert und sie drückte ihn fest an sich.
„Danke, vielen Dank,“ rief sie und plötzlich musste sie weinen.
„Nichts für ungut“, rief der Ältere und reichte dem Jüngeren ein Taschentuch, der es an sie weitergab. Sie nahm es, ohne sich die Tränen damit abzuwischen.
„Sie müssen den Weg freimachen, damit wir wenden können. Wir müssen zurück“, befahl der Fahrer. Manu nickte und öffnete mit einer Hand den Kofferraum, während sie mit der anderen Ruppert umklammerte. Ruppert wurde von den anderen Meerschweinchen quiekend begrüßt und Manu gab ihm eine frische Möhre, an der auch gleich alle anderen in seinem Käfig zu knabbern begannen. Sie schloss den Kofferraum, setzte sich wieder hinters Steuer und fuhr auf die Straße. Sie hatte keine Ahnung wo sie sich befand, und selbst der Weg zur Autobahn war ihr nicht mehr klar. Sie hatte komplett die Orientierung verloren, und der Kloß im Hals wurde immer größer.
Nach ein paar Kilometern kam ein Dorf, dessen Namen sie nicht kannte. Sie hielt vor der Kirche und versuchte den Ort auf der Landkarte zu finden. Noch immer zitterten ihre Hände. Schließlich gab sie es auf. Sie stieg aus und ging zur Telefonzelle am Dorfteich. Wen sollte sie anrufen? Schließlich wählte sie die einzige Nummer, die sie auswendig kannte. Ihr Vater googelte in Sekundenschnelle ihre Position und beschrieb ihr den Weg zurück zur Autobahn. Manu versuchte sich alles zu merken, bedankte sich und hängte den Hörer ein. Es ging ihr jetzt viel besser, der frische Wind, der aufgekommen war, tat ihr gut. Sie sah nach den Meerschweinchen, füllte Wasser nach und fuhr los. Sie wollte auf keinen Fall wieder nach Hause.

 

 

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