Ich fühlte, wie mir der Schwindel zu Kopfe stieg und schnell griff ich nach dem Sandwich. Ich aß es hastig auf und trank einen letzten Schluck aus der Wasserflasche, die ich mir am Flughafen gekauft hatte. Dann ließ ich den Motor wieder an. Ich gab meinem Gefühl noch mal eine Chance, vielleicht fand ich den Weg ja einfach so, intuitiv, wie es Frauen ja gerne nachgesagt wird. Dass es das Bauchgefühl schon richtet. Ich fuhr also eine Weile geradeaus, bog dann nach Belieben mal rechts, dann wieder links ab. Bis ich plötzlich aus der Stadt heraus war und die letzten Straßenlaternen hinter mit gelassen hatte. In der Ferne funkelten leuchtende Punkte auf einer schwarzen Fläche. Das mussten, das konnten nur Schiffe auf dem Meer sein! Plötzlich war mir das Hotel egal, denn darauf hatte ich mich ja am meisten gefreut, die Salzluft und wilde Wellen. Ich fuhr direkt darauf zu und so kam ich an einen fast leeren Parkplatz. Außer mir waren nur zwei weitere Wagen dort. Als ich langsam vorüberfuhr, sah ich Pärchen in eindeutiger Stellung, die nicht das Meer im Sinn hatten, sondern intensiv mit sich selbst beschäftigt waren. Ich parkte mit größtmöglichem Abstand und stieg aus. Ein kühler Wind begrüßte mich, und das Meeresrauschen war deutlich zu hören. Im Sand zog ich meine Sandalen aus und grub die Zehen in den noch warmen Untergrund. Auf einmal schien es mir wie eine Vorhersehung, dass ich hier gelandet war und nicht im Hotel, wo man mich wahrscheinlich am Pool mit einem Drink versorgt hätte. Ich spürte, wie mein Telefon vibrierte und sah, dass es mein Verleger war. Wahrscheinlich machten sie sich schon Sorgen wo ich abgeblieben war. Und genau das gefiel mir plötzlich. Ich war verloren, nicht auffindbar und stand daher nicht zur Verfügung. Die Lesung am Abend musste folglich ausfallen. Ich rannte zum Wasser und ein Schaudern befiel mich, als das kühle Nass meine Füße umspülte. Niemand war zu sehen, was allerdings kein Wunder war, denn außer einigen Lichtern auf See war es stockfinster. Der Mond, der als Sichel über dem Wasser hing, diente nur als Zierde. Und die Sterne funkelten zu weit oben, um der Dunkelheit ihre Unentrinnbarkeit zu nehmen. Mich störte es nicht weiter, wiewohl ich normalerweise ein ziemlicher Angsthase war. In der Stadt traute ich mich spät am Abend nur ungern aus dem Haus und Wälder mied ich, wenn ich alleine unterwegs war. Oft schon hatte ich darüber nachgedacht, mir einen Hund zuzulegen, aber wie hätte ich ihn mitnehmen können, bei all den Reisen, die ich immer wieder zu unternehmen verpflichtet war. Und welche Rasse war einer Literatin schon dienlich? Eher hätte eine Katze gepasst, denn die machten keinen Krach, kratzten dafür aber umso lauter an Türen, wenn man sie aussperrte und Verteidigen würden sie ihr Herrchen niemals. Nein, ein Tier kam nicht infrage, ich musste selbst auf mich aufpassen. Immerhin hatte ich das in den vergangenen 30 Jahren erfolgreich getan, wenngleich es mir nicht immer leicht gefallen war. Wie in diesem Fall: Allein am Strand, nur die Wellen als Gesellschaft, niemand wusste, wo ich war.
Ich ging ein Stück am Meer entlang, bis ich fröstelte und wieder umkehrte. Der Sand unter meinen nackten Zehen fühlte sich feucht und klebrig an und ich hatte Angst in angeschwemmten Unrat zu treten oder wohlmöglich eine Qualle. Ich blieb stehen und sah mich im Geiste stehen wo ich stand, ein schwarzer Punkt in der Nacht, gemessen an der Größe der Welt relevant wie ein Staubkorn, kaum Bedeutung für das Universum. Ich warf einen Stock in die brausenden Wogen und starrte ins Nichts. Was immer gerade passierte, es würde mein Leben nicht verändern, nicht verkürzen oder verlängern, ich war aus der Zeit gefallen und dieser Zustand gefiel mir außerordentlich. Wie im Trance drehte ich mich um mich selbst, erst mit ausgebreiteten Armen, dann engumklammert, denn die Kälte fraß sich unerbittlich durch die Haut. Ich hatte das Bedürfnis zu schreiben und rannte zum Auto zurück, um wieder warm zu werden. Ich kramte meinen Parka aus dem Gepäck, zog ihn an, dazu eine lange Hose und Turnschuhe. Dann setzte ich mich auf den Beifahrersitz, klappte meinen Rechner auf und machte ein paar Fingerübungen, Sätze ohne Zusammenhang, die aber schön klangen. Schon länger hatte ich nicht mehr das Bedürfnis gehabt zu schreiben. Mir war einfach nichts Gescheites eingefallen. Doch hier, in der Dunkelheit an einem wildfremden Ort, überwand ich mich, ich fing einfach an. Wieder meldete sich das Handy, und wieder ging ich nicht ran. Ich überlegte kurz, es ganz auszuschalten, aber es hatte einen gewissen Reiz, wenn es klingelte. Und wenn es auch immer nur derselbe war, der Angst vor den Kosten hatte, die anfielen, wenn ich vor ausverkauftem Saal nicht auftrat. Der Verleger tat mir keinesfalls leid, er war sicherlich gegen alle Eventualitäten versichert und machte sein Geld längst an der Börse, wie er mir einmal zu feuchtfröhlicher Stunde verraten hatte. Ich schrieb über das Dasein in einem fehlenden Zeitfenster, darüber dass es mich hier eigentlich gar nicht geben durfte. Ich war verschwunden, verschluckt von der eigenen Unfähigkeit, den richtigen Weg zu finden. Und das schien mir plötzlich die einzig richtige Antwort auf die Dauerüberwachung via Handy, E-Mails und Google Maps. Ich war an irgendeinem Strand gelandet und das Einzige war jetzt noch wichtig war, war etwas zu essen zu finden.
Ich klappte das Notebook zu und rutschte auf den Fahrersitz rüber. Vielleicht fand sich auch noch ein Glas Wein, dachte ich voller Vorfreude und drehte den Zündschlüssel um. Doch der Motor rührte sich nicht, was mir einen ordentlichen Schreck einjagte. Ich versuchte es wieder und wieder, aber alles blieb still. Ich fluchte und stieg aus, um zu schauen, ob die zwei Liebeshöhlen noch parkten, aber sie waren über alle Berge. Mein Herz klopfte und ich spürte wie ich zitterte. Ich holte mein Handy heraus, um die Mietwagenfirma anzurufen,. Niemand ging ran, die Hotline war wahrscheinlich schon im Bett. Ich überlegte, ob ich meinen Verleger anrufen sollte, aber das hätte den Abbruch meines kleinen Abenteuers bedeutet. Stattdessen schrieb ich ihm einen SMS und teilte mit, dass ich ein Problem mit dem Wagen hatte und daher nicht rechtzeitig im Hotel eintreffen konnte, was ja angesichts der Lage nicht gelogen war. Gleich darauf meldete sich wieder mein Handy. Ich hielt es in der Hand, aber ich konnte mich nicht entschließen ranzugehen. Noch nicht, dachte ich und versuchte wieder den Motor in Gang zu setzen. Als die Batterieanzeige zu leuchten begann und warnte, dass dem Auto bald der Saft zum Zünden fehlen würde, ließ ich es bleiben. Ich war mittlerweile sehr müde, der Flug war lang und anstrengend gewesen und der Hunger schwächte mich. So rollte ich mich auf der Rückbank zusammen und versuchte zu schlafen. Durch die Seitenfenster sah ich die Sterne funkeln, was für ein besonderer Moment, dachte ich. Einer für meine Sammlung, wenn er nicht so ungebeten dahergekommen wäre. Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich begonnen, Momente zu sammeln. Wie ich mich das erste Mal freihändig um die Turnstangen gedreht hatte, mein erster Taschengelddiebstahl im Zimmer meines Bruders, ein beim Joggen zugelaufener Hund, der nicht mehr von meiner Seite weichen wollte – tragische und schöne Augenblicke, die mich berührt hatten. Das alles war in einer Art Tagebuch festgehalten.
Ich schlief nicht gleich ein, zum einen, weil es unbequem war und meine Beine auf der Rückbank nur durch einen gewagten Knick unterzubringen waren. Zum anderen, weil ich mit mir haderte. Warum schlief ich nicht einfach am Strand? Jeder in meiner Lage hätte das gemacht, wieso ich nicht? Weil ich ein Schisser war, salopp gesagt. Die Dunkelheit dort war zu dunkel, die Einsamkeit zu einsam und die Weite zu weit. Ohne Wände ringsherum konnte ich mich nicht entspannen, ja nicht mal atmen. Dieses klägliche Eingeständnis tat mehr weh, als die abgewinkelten Beine, die allmählich aufgrund des Blutstaus abstarben. Ich versuchte Abhilfe zu schaffen, in dem ich eines ums andere abwechselnd über die Kopfstütze des Beifahrersitzes streckte und damit das Autodach touchierte. Es musste von außen betrachtet eine merkwürdige Vorstellung sein, die ich da abgab und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl tatsächlich beobachtet zu werden. War der Wagen auch tatsächlich verschlossen? Ich langte über meinen Kopf und rüttelte am Griff der Tür, aber die Schließautomatik funktionierte. Wieder krümmte ich mich in Position. Ich gähnte und schaute auf die Uhr, noch zwei Stunden bis Mitternacht, bis zum Morgen lag eine gefühlte Ewigkeit vor mir. Was, wenn ich nicht schlafen konnte? Die ganze Nacht wach lag? Ich hatte ja nicht einmal eine Taschenlampe bei mir um zu lesen. So lag ich da und starrte aus dem Fenster in den Himmel, dessen Sternemuster nun wie eine luftig geknüpfte Decke wirkte. Ein Festgewand über dunklem Brokat. Ein funkelnder Quarz, ein leuchtendes Feuer hinter löchriger Fassade. Ich dachte mir noch eine Menge anderer Bilder aus, die dem Vergleich standhielten und endlich fielen mir die Augen zu.
In der Nacht erwachte ich davon, dass Hunde um das Auto herumstrichen und laut jaulten. Oder waren es Wölfe? Der Himmel hatte sich zugezogen und draußen war nichts zu erkennen. Ich hielt mir die Ohren zu und war froh darüber, ein Schisser zu sein, der genau deshalb jetzt nicht am Strand lag. Ein Tier war sogar auf die Kühlerhaube gesprungen und lugte durch die Windschutzscheibe. Mein Herz klopfte und ich griff mein Handy, aber der Akku war leer. Ich spürte wie mich Panik ergriff. Was, wenn die Tiere die Scheibe kaputt machten? Ich zitterte und bemerkte plötzlich, dass ich dringend aufs Klo musste. Sogar sehr dringend! Ich schrie so laute ich konnte und wie ich erhofft hatte, erschrak das Tier auf dem Auto und es sprang davon. Die anderen Hunde hinterher. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich abwartete, um sicher zu sein, dass die Meute weit genug entfernt war, öffnete ich vorsichtig die hintere Tür und hockte mich hin, um mein Geschäft zu verrichten. Ich schlotterte vor Angst und Kälte und rechnete jeden Augenblick damit, von einem zähnefletschenden Monster von hinten angesprungen zu werden. Aber alles blieb ruhig.
Kommentar verfassen