Als Rio sie auf der Straße sah, wusste er, die isses. Er folgte ihr unauffällig in den Supermarkt, zur Post, und als sie in einen Hauseingang schwenkte, schoss er vor.
„Kann ich helfen?“, fragte er und lächelte.
„Hmm, und wat soll dit kosten?“ fragte sie und kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel.
Natürlich nüschte,“ protestierte Rio. Helga musterte ihn.
„Na, weil Weihnachten is,“ sagte sie und ihr Mund verzog sich kurz zu einem Lächeln.
Sie schloss die Tür auf.
Rio nahm die schweren Einkaufstaschen, die sie auf dem Boden abgestellt hatte und tänzelte die Treppe nach oben.
„Welche Etage?“ rief er zu ihr hinunter. Helga schnaufte auf dem zweiten Teppenabsatz.
„Dritte“
„Schon da“, antwortete er und wartete. Scheiße sauber hier, dachte er, 50er-Jahre Spießerbau. Er hörte wie sie sich keuchend nach oben schob. Komisch, so dick war sie eigentlich gar nicht.
„Warum wohnense nicht mit Fahrstuhl?“, fragte er, als sie endlich oben war.
„Weil dit keiner bezahlt, darum nich“, antwortete Helga und holte tief Luft. Sie wischte sich mit einem Stofftaschentuch die Stirn.
„Willste nich wissen, wo ick dit Jeld hab?“ Helga schob den Schlüssel in ihre Wohnungstür.
Rio wusste nicht was er sagen sollte.
„Wieso…“.
„Komm rin,“ sagte sie. Rio nahm die Taschen und folgte ihr. Drinnen roch es nach Kohl oder irgendwas Bitterem. Er stellte die Taschen in der Küche ab und schaute sich um. Die Lage checken hätten seine Kumpel gesagt. Er sah sie durch das Fenster auf dem Spielplatz abhängen. Eine Flasche kreiste, irgendwo läuteten Kirchenglocken. Bald würde es dunkel werden.
„Feiern Sie ganze alleine?,“ fragte er.
„Ick wüsste nich, wattet zu feiern jäbe“. Helga hatte Mantel und Stiefel ausgezogen und kam auf Pantoffeln zu ihm ans Fenster.
„Ich muss mal pissen“ sagte Rio. Sie nickte und deutete in den Flur.
„Erste Tür links“. Helga begann die Einkaufstaschen auszupacken.
Jetzt musste alles schnell gehen. Er ging in den Flur, klappte die Toilettentür auf und laut wieder zu und schlich weiter. Die Wohnzimmertür stand offen und in einer Sekunde hatte er gepeilt, wo es was zu holen gab. „Kennerblick,“ hatten seine Freunde das genannt, er fand, das war Talent. Er schlich zur Anrichte und öffnete leise eine Schublade. Volltreffer: Da funkelte eine goldene Uhr und ein Ring, daneben lagen Geldscheine. Er stopfte alles schnell in seine Socken. In der nächsten Schublade lagen Briefmarken und Klebstoff, aber in der da drunter fand er: Kontounterlagen und eine EC-Karte! Eilig verstaute er beides unter seinem Shirt. Sein Puls ging schnell, und er wäre am liebsten sofort aus der Wohnung gerannt. Aber er musste jetzt ruhig bleiben. Langsam drehte er sich um und schlich zurück zum Klo. Er zog die Spülung und wusch sich die schweißnassen Hände. Immer cool bleiben, Alter“ flüsterte er seinem Spiegelbild zu und machte eine Fratze. So sahen Siegertypen aus. Die Mädchen rissen sich schon darum, ihm einen zu blasen. Er nahm einen Kamm vom Bord über dem Waschbecken und kämmte seine gegelten Haare. Dann schaute er, ob das Zeug gut verstaut war und steckte die EC-Karte doch lieber in die Gesäßtasche. Er hatte Angst, dass sie ihm plötzlich herausfallen könnte.
Dann öffnete er die Klotür.
„Na, Freundchen, machste dir jetzt in die Hosen? Is aber nüscht mehr drin, oder doch?“ Helga richtete das Gewehr direkt auf seine Stirn.
„Ähh,“
„ Mehr hast du nicht zu sagen?“
„Ich lass alles da, ganz ruhig bleiben Frau…“
„Jäger, Schützenkönigin 1977, 78, 79 und 80.“
Helga drückte ab und schoss knapp daneben in die Wand hinter dem Klo. Rio hielt sich das rechte Ohr, die Patrone hatte ihn fast gestreift.
Die Nachbarn kennen dit schon,“ sagte Helga und lud nach. „Siehste die Scheibe?“ Rio wurde schlecht. Er drehte sich um und tatsächlich, da hing eine Zielscheibe über dem Wasserkasten. Mehrere Einschlusslöcher gruppierten sich um den innersten Kreis.
„Volltreffer“, sagte die Jäger und schnalzte mit der Zunge. Sie richtete den Lauf wieder auf Rio.
„Kann ich auch mal?“ fragte Rio und zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche. Schweißperlen liefen über seine Stirn.
Watt denn, schießen oder rauchen?“ Sie lachte ein heiseres Lachen.
„Beides.“
„Dein letzter Wunsch, oder wat?“ Die Jäger nahm ihn ins Visier und kniff ein Auge zu.
„Da hätt ich noch was besseres,“ antwortete Rio und warf die Fluppe ins Waschbecken.
„Is Weihnachten, oder?“, sagte sie.
„Ja, mann.“
„Dann wünsch ick mir jetzt och wat.“
„Und wat?“
„Zieh dich aus.“
„Häh?“
„Nix häh. Los mach schon.“
Die Jäger trat einen Schritt vor. „Aber jetze,
sonst knallt´s.“
Rio zog seine Armeejacke aus und ließ sie auf den Boden fallen.
Er starrte sie an. „Und was..“
„Weiter, weiter, Nu mach schon.“
Er zog langsam sein Shirt über den Kopf.
„Das is voll krank,“ jammerte er.
„Isset och.“ stimmte sie zu und drückte ab. Die Kugel flog wieder knapp an seinem Ohr vorbei
Hastig zog Rio seine Jeans aus. Dabei fielen die Kontounterlagen zu Boden.
„Na sowat.“ Die Jäger fummelte wieder am Abzug herum.
„Ich hab fünf Brüder zuhause,“ schrie Rio.
„Ick och – und zwee Schwestern. TEUFEL hatten wir Knast.“
Jetzt stand Rio nur noch in Unterhose und Socken da.
„Die och noch,“ kommandierte die Jäger und zeigte auf die ausgebeulten Socken. Langsam ging Rio in die Knie. Die Jäger machte schnell einen Schritt zurück. So lahm war die gar nicht, dachte Rio.
„Dit war dein letzter Beutezug, Freundchen.“ Sie lud nach.
Rio klaubte die Uhr und das restliche Zeug aus den Socken und zog sie aus.
Er schaute hoch.
„Jetz is aber gut, nich?“
„Ja, ja.“ Die Jäger zielte und drückte ab.
„Siehste? Wieder alle Neune, haha!“ Sie ließ ihre Goldzähne blitzen.
„Und nu rufste deene Kumpel an.“
Rio richtete sich auf.
„Hä?“
„Die solln hier´n Baum vorbeibringen. `Ne Tanne, aber frisch musser sein, darf nich nadeln.“
Rio schlang die Arme um die Brust. Er hatte eine Gänsehaut.
„Ein Karpfen, aber nen Lebendigen, Rotkohl, Klöße, aber nich die aus der Tüte. Richtig jute, jibs bei Feinkost Hering inner Karl-Marx-Straße.“ Sie hustete. „UND noch Spätlese. Krötenberger Nacktarsch.“ Sie lachte wieder ihr heiseres Lachen.
„Und wer soll dit bezahl´n?“
„Ruf an!“ Sie zielte auf seine Stirn.
Hastig wühlte Rio in dem Kleiderhaufen und zog sein Handy aus der Jackentasche.
Er wählte die Nummer von Mike.
„Was geht, haste die Alte gefickt?“ Im Hintergrund hörte er die anderen kichern.
„Kein Spaß, ey. Die knallt mich ab. Ihr müsst nen Tannenbaum besorgen, dann Karpfen und Klöße, keine Ahnung.“
„Willst du uns verarschen, mann?“
„Ne, mach einfach.“
„Vollspacken,“ sagte Mike und legte auf.
Rio wurde blass.
„Mann, die glauben mir nich,“ rief er und starrte die Jäger an.
Einen Augenblick passierte nichts. Rio hörte sein Herz schlagen wie ein Hammer. Sollte er die Alte einfach anspringen, alles auf eine Karte setzen? So tief hatte er noch nie in der Scheiße gesteckt. Er ballte die Fäuste.
„Macht nüscht,“ sagte sie schließlich und ließ das Gewehr sinken. Jetzt, dachte er, aber er konnte sich nicht rühren.
„Leg das Ding weg!“
Er ließ das Handy auf den Kleiderberg fallen.
„Jeht och ohne Baum. Wir machen´s uns gemütlich, Kleener.“ Sie hob wieder das Gewehr. „Los, komm mit.“ Er trat aus dem Klo in den Flur, während sie rückwärts um die Ecke bog.
„Geh da rein, is mein Schlafzimmer.“ Sie stieß ihn mit dem Gewehr vorwärts. Er öffnete die Tür und trat ein. Breites Bett aus weißem Furnier, Schrankwand, rosa Lampenschirm, voll der Oma-Style.
„Setz dich und keene Faxen.“ Die Jäger blieb an der Tür stehen. Das Flurlicht warf ein fahles Licht auf ihre grauen Haare. Sie sah aus wie eine Hexe.
Er setzte sich auf die rosa geblümte Tagesdecke.
„Ich koch uns erstmal was.“ Sie machte die Tür zu und drehte den Schlüssel zweimal um.
Rio atmete auf. Er ging zum Fenster und schob die Gardine zur Seite. In der Dämmerung sah er, wie seine Kumpel noch immer auf der Tischtennisplatte hockten.
Er öffnete das Fenster. Aber sie waren zu weit weg, er hätte schreien müssen, damit sie ihn hörten. Die kalte Luft ließ ihn frösteln. Dritter Stock, das war verdammt hoch. Aber er hatte auch keine Lust, das Opfer einer durchgeknallten Oma zu werden. Leise verbarrikadierte er die Tür mit einer Stuhllehne unter der Klinke.
Dann machte er sich an die Arbeit. Er schlug das Bett auf und nahm die Laken. Mit den Zähnen biss er Löcher rein und riss Streifen um Streifen ab. Das hatte er schon oft in irgendwelchen Filmen gesehen, und es klappte tatsächlich. Er horchte immer wieder, ob die Alte aus der Küche käme. Aber sie hatte das Radio angestellt und schien ihn erst mal vergessen zu haben. Dann knotete er die Leinenbahnen aneinander, band das Lakenseil am Bettpfosten fest und ließ es in die Tiefe fallen. Es reichte bis zum ersten Stock.
Einen Augenblick zögerte er. Aber dann hörte er, wie die Jäger versuchte die Klinke runterzudrücken. Er sprang auf die Fensterbank und hangelte sich abwärts. Keinen Augenblick zu früh, denn schon hagelte die erste Kugel durch die Tür.
„Warte Freundchen,“ schrie sie.
Er war noch nie so schnell geklettert.
Als er unten ankam, sprang er die letzten Meter und rannte dann wie ein gejagtes Tier über die Rasenfläche zwischen den Häusern. Schon kam unten die Jäger aus dem Haus mit dem Gewehr. Wie sie das so schnell geschafft hatte, jagte es Rio durch den Kopf.
„Ick krieg dich,“ rief sie und schoss wieder und wieder. Rio hörte Polizeisirenen. Dann war er um die Ecke gebogen. In einem Hauseingang hielt er kurz an, um Luft zu schnappen.
Er hatte es geschafft. Sein Magen krampfte sich zusammen und er musste sich übergeben. Als es vorbei war, lehnt er sich an die Hauswand. Er fühlte sich müde wie schon lange nicht mehr. Rio überlegte, was er als nächstes tun sollte. Zu seinen Kumpels gehen kam nicht infrage, die hätten ihn nur ausgelacht. Er trat auf der Stelle und schlang die Arme um sich.
„Na, ist das nich ein bisschen wenig um die Jahreszeit?“ fragte plötzlich jemand von hinten. Rio zuckte zusammen. Langsam drehte er sich um.
Da stand der Weihnachtsmann mit einem Sack. Erleichtert lehnte sich Rio gegen die Wand. Mann, er hatte sich fast in die Hosen gemacht vor Schreck.
„Nee, wieso?“ sagte er.
„In der Wärmestube von der Kirche da drüben ist gleich Bescherung, da gibt’s auch Klamotten,“ sagte der Weihnachtsmann und schulterte wieder seinen Sack.
„Wäre ne Idee,“ murmelte Rio. So konnte er unmöglich nach Hause gehen. Sein Vater würde ihn grün und blau schlagen. So wie letztes Jahr und das Jahr davor. Eigentlich hatte es immer Prügel gegeben an Weihnachten. Alle soffen und einen Grund gab´s immer. Er trabte hinter dem Weihnachtsmann her.
„Warte hier,“ sagte er, als sie schließlich vor der Wäremstube standen. „So kannst du da nicht rein, ich such dir was zum Anziehen raus, setz dich solange in die Kirche.“
Rio ließ sich das nicht zweimal sagen. Er fror mittlerweile wie bescheuert und fühlte seine Hände und Füße nicht mehr. „Schuhgröße 42,“ rief er dem Mann hinterher.
Er hörte wieder einen Schuss, dann den Lautsprecher der Polizei. Mann, war er froh, dass er das hinter sich hatte!
In der Kirche war es schön warm, und niemand ließ sich blicken. Er setzte sich auf eine Bank neben der Heizung. Der Tannenbaum war geschmückt, überall brannten Kerzen. Eine riesige Holzkrippe war aufgebaut. Er rieb sich die Hände, bis er sie wieder spürte. Rio überlegte wann er das letzte Mal in der Kirche gewesen war. Noch gar nicht lange her, fiel ihm ein. Er hatte, während der Gottesdienst im Gange war, die Kasse am Ausgang mitgehen lassen. Er sah sich suchend um, da stand sie. Aber irgendwie war ihm nicht danach, er fühle sich auf einmal unendlich müde. Er legte sich auf die Polster der Bank und starrte an die Decke. Ein überlebensgroßer Jesus am Kreuz war dort aufgemalt. Er schien zu lächeln.
„Grins´ nich so blöd,“ sagte er.
„Hallo?“ rief jemand.
Rio hob den Kopf und sah über die Bänke hinweg den Weihnachtsmann am Eingang stehen. Er winkte mit einer Jeans.
„Hier,“ rief er und rappelte sich hoch. Der Weihnachtsmann kam eilig her.
„Weiß nicht, ob dir das passt,“ murmelte er und reichte ihm, was er gefunden hatte. Hose, Pullover und Turnschuhe sowie ein Parka.
Rio probierte die Jeans an. Nicht gerade der geilste Style. Aber sie passte einigermaßen. Dann griff er sich die Schuhe.
„Nike,“ rief Rio erstaunt. Was die Kirchendeppen alles auf Lager hatten.
Die Schuhe waren auf jeden Fall nicht so peinlich, als dass er damit nicht nach Hause hätte laufen können. Das Sweatshirt allerdings war vollspacken. Da stand irgendeine Scheiße auf Chinesisch drauf, und dann noch lila. Der Parka war von der Bundeswehr, oh mann.
Er zog alles an.
„Willst du was zu essen?,“ fragte der Weihnachtsmann.
Rio schüttelte den Kopf.
„Ich bleib noch´n bisschen hier.“
„In einer Stunde beginnt der nächste Gottesdienst, dann musst du Platz machen.“ Der Weihnachtsmann wühlte in der Tasche seines Mantels. „Hier ist meine Handynummer, wenn du wieder mal Hilfe brauchst.“ Er reichte ihm ein Kärtchen. „Bernd
Fischer, Sozialpädagoge“ stand da drauf.
„Danke,“ sagte Rio. „Dafür nicht,“ brummte Fischer und ging zum Ausgang.
„Fröhliche Weihnachten,“ rief er als er die Tür in der Hand hielt.
„Ja, genau,“ murmelte Rio.
Er legt sich wieder auf die Bank und starrte an die Decke.
Dann drehte er sich zur Seite und schlief ein.
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