Der Friedhof lag da wie ausgestorben, ein kalter Wind pfiff durch die kahlen Bäume, die wie ausgehungert ihre Äste zum wolkenverhangenen Himmel streckten. Gerade eben noch hatte die Sonne ein wenig Wärme geschickt, doch jetzt war der Wolkendeckel wieder fest verschlossen und ich zitterte, als ich meinen Weg zwischen den Gräbern zu Mutter bahnte. Heidi Schäfer, seit über sechs Jahren tot, geschmückt von Heidekraut und rosa Alpenveilchen, die eine Gärtnerei angepflanzt hatte. Je nach Jahreszeit wurde der Bewuchs ausgetauscht. Was passierte mit den Pflanzen, wenn sie der Jahreszeit nicht mehr entsprachen? Ich schaute düster auf die Pflänzchen, die ich noch nie gemocht hatte und fand Heidis Grab zu rosa, als habe ein von der Genderdebatte gänzlich unberührtes Mädchen seinen Kindheitstraumklischee hier ausgelebt. Ob es ihr gefallen hätte? Mein Blick schweifte zum Nachbargrab, auf dem ein welker Strauß in einer Vase vor sich hin faulte. Außer diesem gab es nichts, was dem schwarzen Grabstein etwas von seiner Trostlosigkeit hätte nehmen können. Ich griff nach den verblühten Blumen und trug sie zum Abfallkorb neben der Kirche. Auf dem Weg sah ich noch mehr solcher fahlen, vernachlässigten Gräber und, ohne groß zu überlegen, buddelte ich wenig später ein paar Veilchen von Mutters Grab aus, um sie auf den benachbarten, ungeschmückten Gräbern zu verteilen. Hannah Popken, Uwe Dierks, Erika Wienand – sie alle hatten es verdient, Blumen zu bekommen, auch wenn ich sie nicht kannte.
Am nächsten Tag kam ich wieder, der Zustand des verlassen wirkenden Friedhofs hatte mir keine Ruhe gelassen. Beladen mit zwei Paletten Herbstastern schwärmte ich aus und verzierte die Gräber der Vergessenen. Überall leuchteten bald Farbtupfer, und der kleine Friedhof schien zum Leben zu erwachen. Die Sonne kam raus, letzte Hummeln flogen schwerfällig von Blume zu Blume, Amseln und Meisen sangen und ich betrachtete am Ende des Tages mein Werk. Niemand außer mir hatte in den Stunden meines Schaffens den Friedhof betreten und ich fragte mich, wo all die Angehörigen der Verstorbenen jetzt waren. Sicherlich auf dem Weg nach Hause, vielleicht nicht an diesem Ort, sondern weit weg. Vielleicht waren sie alle weggezogen und hatten nur ihre Toten hier gelassen, die einst ihre Eltern waren oder Tanten, Onkel. Liebende Menschen, die sie beschützt und ernährt hatten.
Ich wünschte mir an diesem späten Nachmittag, dass auch ich einmal hier begraben werden wollte. Und auch dann würde selten jemand kommen, um das Grab zu pflegen, denn meine Kinder wohnten weit weg. Ich wäre dann vielleicht nicht vergessen, aber ein Bewohner auf dem Friedhof der Verlassenen. Mit Grabpflege und Blumen, die ich nicht leiden kann.
Weinend stand ich an Mutters Grab.
Am nächsten Tag reiste ich ab.
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